Mit kleinen offenen Holzbooten begeben sich Ende der
70er-Jahre Hunderttausende Vietnamesen auf die Flucht. (undatierte Aufnahme)
Dicht gedrängt flüchten die Menschen auf kleinen Holzbooten über das offene Meer. Schon nach wenigen Tagen gibt es nichts mehr zu essen und zu trinken. Piraten überfallen die überfüllten Boote und bringen die Flüchtlinge um ihr letztes Hab und Gut.
Ende der 70er-Jahre gehört Vietnam zu den ärmsten Ländern
der Welt. Eltern sehen in den Wirren nach dem Vietnamkrieg (1955 - 1975) keine
Perspektiven für ihre Kinder. Junge Männer fürchten den sicheren Tod an der
Front im nächsten mörderischen Krieg, der zwischen Vietnam und Kambodscha
ausgebrochen ist. Auch haben viele Angst, wegen ihres christlichen Glaubens
verhaftet zu werden. Hunderttausende Vietnamesen fliehen, viele von ihnen über
das Chinesische Meer. Mehr als 200.000 Vietnamesen - Boatpeople genannt -
ertrinken auf ihrer Reise, die sie mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft gewagt
hatten.
"Cap Anamur" rettet Flüchtlinge aus
"Nussschalen"
Die Berichte und Bilder davon rütteln die Menschen im Westen
zunehmend auf. Einer von denen, die dringend etwas tun möchten, ist der
Journalist Rupert Neudeck. Am 1. August 1979 heben er, seine Frau Christel und
einige Freunde - darunter Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll - die Kölner
Hilfsorganisation Cap Anamur aus der Taufe. Schnell bildet sich das Komitee
"Ein Schiff für Vietnam", das die Rettung der Boatpeople organisieren
will.
Acht Tage später läuft das von der Hamburger Reederei Hans
Voss gemietete Schiff MS "Cap Anamur" aus dem Hafen der japanischen
Metropole Kobe aus, um in Seenot geratene Flüchtlinge vor der vietnamesischen
Küste aufzunehmen. Am 13. August nimmt die "Cap Anamur" die
Hilfsaktion im Südchinesischen Meer auf. Etwa zweieinhalb Monate später rettet
die Crew die ersten 170 Menschen, die in "Nussschalen", wie die
kleinen offenen Boote von vielen genannt werden, auf hoher See treiben.
Mit dem Kran ans rettende Deck - Platz für 600 Menschen
Cap-Anamur-Gründer Neudeck - 2016 gestorben - und seine Frau
Christel im Jahr 2014 bei der 35-Jahr-Feier in Hamburg.
"Sie haben sich in Fischer- und Flussbooten wie
Lemminge in die See geworfen", erinnert sich Neudeck bei einer Gedenkfeier
Jahrzehnte später an die erste Rettungsaktion. "Vier Tage und vier Nächte
waren sie unterwegs, wie in einer Sardinendose eingeklemmt." Viele
Flüchtlinge finden die Retter auch später in meist schlechtem körperlichen
Zustand vor: Oft sind ihre Muskeln derart erschlafft, dass sie eine
Strickleiter nicht hochklettern können. Die Besatzung der "Cap
Anamur" hievt sie deshalb mit einem Kran, an dem eine Plattform angebracht
ist, auf das rettende Deck. Auf dem umgebauten Frachter kommen bis zu 600
Menschen unter, die Schwimmwesten dienen den Geretteten als Kopfkissen.
Schwimmendes Lazarett: Ärzte versorgen unter Deck
Unter Deck ist eine große Küche eingerichtet, ebenso ein
kleines Hospital, in dem mehrere Ärzte und Krankenschwestern die Menschen
versorgen. Auf der Fahrt nach Europa bringen die Mediziner den Flüchtlingen die
ersten Worte auf Deutsch bei. Auch Kinder werden auf hoher See geboren.
Heftig umstritten: Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland
Auch in Hamburg landen vietnamesische Flüchtlinge an, die
von der "Cap Anamur" aufgenommen wurden.
Immer öfter stößt der Rettungsfrachter auf dem
Südchinesischen Meer auf überladene Boote, die hilflos auf dem Wasser treiben -
Wetter, Stürmen und Piraten schutzlos ausgeliefert. Parallel zu den
Rettungsaktionen setzt sich Neudeck politisch dafür ein, dass die geretteten
Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden - was ihm nicht nur Anerkennung,
sondern auch viel Kritik einbringt. Diese Art von Engagement könne doch
missverstanden werden und noch mehr Vietnamesen zur Flucht motivieren, heißt
es.
Nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen kommen die
ersten Boatpeople schließlich im Sommer 1980 über Singapur nach Deutschland -
die Aufnahme beschränkt sich allerdings auf diejenigen, die direkt von der
"Cap Anamur" aufgegriffen werden.
"Cap Anamur" rettet rund 11.000 Boatpeople
An der Hamburger Hafenmeile erinnert eine Gedenktafel an den
Einsatz der "Cap Anamur"-Schiffe in den 70er- und 80er-Jahren.
Im Lauf der Jahre sind drei Schiffe unter dem Namen
"Cap Anamur" unterwegs. Insgesamt rund 11.000 vietnamesische
Flüchtlinge können "Cap Anamur" I, II und III zwischen 1979 und 1987
aus Seenot retten. Weitere 35.000 Menschen werden nach Angaben des Vereins in
dieser Zeit an Bord zusätzlich medizinisch versorgt.
Finanziert werden die Einsätze mit Spendengeldern - und die
deutsche Bevölkerung erweist sich als extrem hilfsbereit: 20 Millionen D-Mark
kommen über die Jahre zusammen, die den Betrieb der Schiffe und die Versorgung
der Flüchtlinge sichern.
Verein inzwischen weltweit im Einsatz
Nach dem ersten Einsatz als Rettungsfrachter ist die
"Cap Anamur" weltweit für die Flüchtlingsrettung im Einsatz, hier
2004 vor Sizilien.
Was einst unter dem Namen "Ein Schiff für Vietnam"
als einmalige Rettungsaktion begann, ist in den vergangenen vier Jahrzehnten
stetig gewachsen. Inzwischen agiert die Rettungsinitiative weltweit: In rund 60
Ländern waren die Teams mit mehr als 1.000 Mitarbeitern bislang im Einsatz,
unter anderem in Krisenregionen des Nahen Ostens, Nordkorea sowie Zentral- und
Westafrika, aber auch in Europa. Neben Rettungsaktionen leisten die Helfer vor
allem medizinische Unterstützung.
Seenotrettung von Flüchtlingen aktueller denn je
Noch heute finanziert sich der unabhängige Verein allein
über Spenden. Doch nicht nur das Engagement ist geblieben. Auch heute sind
weltweit Menschen auf der Flucht - und geraten bei dieser unter prekären
Bedingungen in Seenot. Und auch heute gibt es politische Kräfte, die
anzweifeln, dass Seenotrettung notwendig beziehungsweise politisch hilfreich
sei. Dabei gilt aktuell das Mittelmeer als Brennpunkt der europäischen
Flüchtlings-Seenotrettung. Laut Bericht der
UNO-Flüchtlingshilfe sind allein 2018 mindestens 2.275 Menschen bei
ihrem Fluchtversuch über das Mittelmeer ertrunken.
>>> Quelle: ndr.de